Hauptstadt Sibiriens

28.07.2016

Ungewohnt modern geht es draußen zu, beim ersten Blick aus dem Zugfenster am Morgen: modernisierte Infrastruktur, Lärmschutzwände und vorn eine rechte neu aussehende Ellok, die sich wohl EP2K nennt und im Gleichstromnetz rings um Novosibirsk die Alleinherrschaft im Personenverkehr übernommen hat. Die Häuser ringsrum sehen dagegen meist ziemlich grau aus, irgendwie fühle ich mich an Polen erinnert.

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Ankunft in Novosibirsk.

Novosibirsk! Gefühlt war das immer ganz weit weg, bis Anfang der 2000er Jahre der Zielort des längsten Kurswagenlaufs direkt von Berlin. Aber eigentlich fängt die Weite hier erst an…

Ankunft im riesigen Bahnhof pünktlich um 6.44Uhr. Wahrlich eine Kathedrale des Verkehrs. Rausgeputzt, aber schick, Kronleuchter, riesige Wartesäle. Hier werden große Reisen unternommen.

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Wartesaal im Bahnhof Novosibirsk.

Über allem thront ein RZD-Netzplan, den ausgerechnet ein nordamerikanischer Amtrak-Zug verziert. Ob es Zufall ist, dass die alte Amtrak-Lackierung die russischen Nationalfarben enthielt, was ihr sicher zu diesem prominenten Schauplatz verholfen hat?

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Kassen im Bahnhof mit „Amtrak-Netzplan“

Die Erde ist eben eine Kugel.

Sonst ist der erste Eindruck recht angenehm, der Bahnhofsvorplatz gehört dem ÖPNV und scheint recht ruhig. Die Metro – die wohl östlichste der russischen Standard-Ausfertigung – ist auch hier durchleuchtungspflichtig. Und die Sokol Hostel ist im Keller, aber hübsch gemacht. Gleich drei Gemeinschaftsräume und keine Doppelstockbetten.

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Hier fährt man mit dem ÖPNV, die Straßen sind leer, nur wenige Menscchenn haben Autos…

Ein Australier verschwindet leider, am Nachittag kommt ein Ami, der, wie auch die fahrradfahrende Bianca in Tadschikistan, beschlossen hat, den Rest seinen Lebens mit Reisen zu verbringen. Leben tut er von einer Wohnung in Washington DC, die er vermietet. Die, ähm manche, Amis waren schon immer clever…

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Im Gegensatz zu den portraitierten Herren ist sie keine „Heldin der Sowjetunion“

Er ist der Einzige, mit dem ich mich hier etwas „advanced“ austauschen kann. Zum Beispiel über gundsätzliche Systemdiskussionen, über Subventionspolitik in Amerika, die die Burger billig und das Gemüse teuer macht oder über die Definition von „Ost“ und „West“. Ergebnis: es wird westlicher je weiter östlich man in dieser Erdenregion fährt. Und irgendwann auf dieser Reise, garnicht mehr so fern, wird die Sonne im Osten über Amerika aufgehen. Da war sie schon wieder diese verflixte Erdenkugel.

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Leninplatz.

Novosibirsk kann bei vertiefter Besichtigung den guten ersten Eindruck nicht halten. Nachmittags ist der Berufsverkehr genauso übel wie anderswo, schöne Häuser sucht man (abgesehen von wenigen Holzhäusern) fast vergeblich.

Novosibirsk liegt am Ob, so scheint der Retschni Voksal („Flussbahnhof“) eine wichtige Institution zu sein, er hat sogar einen einen Metrohalt. Leider ist die Zeit der Raketa (Tragflächenboote) auch auf dem Ob vorbei. Es gibt nur noch Ausflugsschiffe und selbst die fahren heute nicht. Bleibt eine Wanderung von Zentral- nach Westsibierien über den Ob und das selbstbestimmte Schwimmen im Ob, schließlich gibt es sogar einen Gorodskoj Platsch (Stadtstrand) mit nettem Blick auf die Downtownkulisse.

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Gorodzki Plasch, Novisbirksks Stadtstrand am Ob.

Alle gängigen Spielarten des elektrischen ÖPNV, ähm der urbanen e-mobility, sind übrigens (zum ersten Mal auf dieser Reise) vollständig vertreten: soll heißen es gibt neben Elektritschkas, Metro und O-Bus eine noch fahrende Straßenbahn, genauer gesagt, gleich zwei Netze davon.

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Alles hat ein Ende…, auch das Leben der Tram in Novosibirsk?

Das östlich des Obs, das was ein wenig die Altstadt berührt, hebe ich mir noch auf, das westliche Netz, zum Großteil auf eigener Trasse wahrscheinlich komplett zusammen mit den Stadtteilen ringsrum in den 70ern entstanden, scheint attraktiver, es ist noch etwas größer, es fahren mehrere Linien, aber es sieht alles sehr nach Auslaufbetrieb aus: alte Fahrzeuge, Gleiszustand unterirdisch, gefahrene Geschwindigkeiten minimal, kaum Fahrgäste. Schade.

29.07.2016

Eigentlich könnte man weiter fahren, aber ich brauche noch ein wenig, bis ich im Kopfe den Sprung von Zentralasien nach Sibirien geschafft habe, ob der heutige Tag dabei geholfen hat – man weiß es nicht. Klassische Sehenwürdigkeiten scheint es kaum zu geben, bleiben die bahnaffinen Ziele, aber es will alles nicht so recht funktionieren: die Eisenbahn-Südbrücke ist unerreichbar mit ÖPNV, auf der Nordbrücke gibt es keinen Zug.

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Für nur  18Rubel kann man im O-Bus schöne Ausblicke, z.B auf den Ob, erleben…

Das Ostnetz der Tram besteht im Wesentlichen aus einem Großen „Fast-Kreis“, von dem wiederum verschiedene Halbkreise im Linienbetrieb befahren werden. Obwohl auf der Zentrumslinie 11 modernisierte Fahrzeuge eingesetzt werden, ist auch hier der Netzzustand unterirdisch und die Bahn kommt kaum voran.

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…in der Metro sieht man ihn dagegen nicht.

Ebenso nicht voran komme ich mit den Entscheidungen für den weiteren Reiseverlauf. Es fehlen Informationen. Irgendwie will ich sowohl BAM als auch Transsib fahren. Zudem sollen ja auch noch ein paar Raketas, also Schnellboote, z.B. auf der Lena, eingebaut werden. Aber wann die wo fahren, ist einfach nicht rauszukriegen. Man hört nur von Gerüchten, dass immer mehr Verbindungen eingestellt werden…

Aber irgendeine Entscheidung muss getroffen werden, schließlich droht sonst ein weiteres MECT HET-Problem (Zug ausgebucht).

Immerhin gibt es am Bahnhof Automaten, die nicht viele Fragen stellen, sondern – auch auf Englisch – klare Informationen zur Buchungslage und zu Preisen liefern. Und so sind dann irgendwann die nächsten 2000km geklärt, BAM-wärts nach Severobaikalsk, morgen abend geht es los!


2 Gedanken zu “Hauptstadt Sibiriens

  1. Da hast du (unwissentlich?) den geografischen Mittelpunkt Russlands fotografiert in Form der kleinen Kapelle mit der goldenen Kuppel. Zumindest war er das noch bei meinem Besuch 2013, kann sich leicht verschoben haben 😉

    1. Guter Hinweis, danke. Da wusste ich in der Tat nichts von, dass die Kapelle mal Russlands Mittelpunkt symbolisieren sollte.
      Aber wenn ich Wikipedia richtig verstehe, war er das auch 2013 schon nicht mehr. Heute soll er irgendwo bei Krasnojarsk liegen.

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